Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinen Entscheidungen vom 20. März 2018 in den Fällen der nach dem Putschversuch inhaftierten türkischen Journalisten Mehmet Altan und Sahin Alpay jeweils Verletzungen von Art. 5 Absatz 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Art. 10 der EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung) durch die Türkei festgestellt. Die Verletzung von Art. 5 Absatz 4 EMRK (Recht auf eine zügige Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) sowie weiterer Rechte aus Art. 5 durch die türkischen Gerichte verneinte der EGMR jedoch. Hierbei handelt es sich um das erste Urteil des EGMR in Bezug auf die Maßnahmen der Türkei nach dem Putschversuch. Zahlreiche Beschwerden wurden seitens des Gerichtshofs bereits wegen mangelnder Rechtswegerschöpfung als unzulässig verworfen. 

Die beiden Fälle, die vom EGMR zusammen entschieden wurden, gehen auf den Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 zurück. Die beiden Journalisten Mehmet Altan und Sahin Alpay befinden sich seit Juli 2016 wegen des Verdachts der Mitgliedschaft bei der Terrororganisation FETÖ / PDY („Gülenist Terror Organization / Parallel State Structure“) in Untersuchungshaft in Istanbul. Ihre wiederholten Anträge auf Freilassung und/oder Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens wurden von den Gerichten abgelehnt. Die Inhaftierten erhoben hieraufhin Individualbeschwerde beim türkischen Verfassungsgericht, das Anfang des Jahres 2018 feststellte, dass beide Inhaftierungen aufgrund der Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit sowie des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit rechtswidrig seien. Trotz dieser Urteile des Verfassungsgerichts lehnte das Instanzgericht in Istanbul die Anträge der Journalisten auf Freilassung ab. Die hiergegen gerichteten Beschwerden beim EGMR hatten nunmehr Erfolg. 

Der Gerichtshof hat sich in seiner heutigen Entscheidung im Hinblick auf das Recht auf freie Meinungsäußerung zunächst der Beurteilung des türkischen Verfassungsgerichts im Wesentlichen angeschlossen. Insbesondere wurde festgestellt, dass die erste und fortgesetzte Untersuchungshaft einen schwerwiegenden Eingriff in Art. 10 EMRK darstelle, der aufgrund mangelnder Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit auch nicht gerechtfertigt werden könne. Kritik an Regierungen und die Veröffentlichung von Informationen, die von nationalen Führern als Gefahr für nationale Interessen angesehen werden, könnten keine strafrechtlichen Anklagen wegen besonders schwerer Straftaten wie die den Journalisten vorgeworfenen (z.B. Zugehörigkeit zu oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, Versuch des Sturzes der Regierung oder der verfassungsmäßigen Ordnung, Verbreitung terroristischer Propaganda) begründen. 

Hinsichtlich der trotz des verfassungsgerichtlichen eindeutigen und unmissverständlichen Urteils fortgesetzten Untersuchungshaft stellte der EGMR weiter eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK fest. Es widerspreche den Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit als Eckpfeiler der Menschenrechtskonvention, wenn andere Gerichte die Befugnisse von Verfassungsgerichten in Frage stellten, denen die endgültige und verbindliche Beurteilung von Individualbeschwerden obliegt. Interessant ist dabei, dass der EGMR auch betonte, dass aufgrund dieser Handhabe auch ernsthafte Zweifel an der generellen Effektivität von Individualbeschwerden beim Verfassungsgericht in Fällen der Untersuchungshaft aufgeworfen werden müssten. Während der Gerichtshof eine endgültige Entscheidung hierüber wegen seiner früheren Feststellungen im Fall Koçintar jedoch nicht treffen wollte, behielt er sich  ausdrücklich vor, die Wirksamkeit des Systems der Individualbeschwerden vor dem Verfassungsgericht insbesondere im Hinblick auf spätere Entwicklungen in der Rechtsprechung der erstinstanzlichen türkischen Gerichte zu überprüfen.

Die Beschwerden der Journalisten hinsichtlich einer Verletzung des Art. 5 Abs. 4 EMRK wegen der ihrer Ansicht nach überlangen Dauer des Verfahrens vor dem Verfassungsgericht (14 Monate und drei Tage im Falle von Herrn Altan und 16 Monate und drei Tage im Falle von Herrn Alpay) wies der EGMR jedoch mit der Begründung zurück, dass die Situation im vorliegenden Fall angesichts der Komplexität des Falls und der aktuellen Fallzahlen des Verfassungsgerichts außergewöhnlich gewesen sei. Auch die Beschwerde hinsichtlich eines Rechts auf Entschädigung wegen rechtswidriger Inhaftierung wurde zurückgewiesen mit der Begründung, das ein Rechtsbehelf bestanden hätte, da das türkische Verfassungsgericht befugt war, Wiedergutmachung in Form einer Entschädigung zuzusprechen.

 

Die Pressemitteilungen des EGMR (englisch und französisch) sind abrufbar unter:

http://hudoc.echr.coe.int/eng-press?i=003-6037377-7754282

http://hudoc.echr.coe.int/eng-press?i=003-6037379-7754294