Die Große Kammer des EGMR entschied am 15.11.2018 auf Beschwerden von Alexej Navalny gegen Russland, dass seine Festnahmen, Inhaftierungen und Verurteilungen 2012 und 2014 im Umfeld und Nachgang zu politischen Demonstrationen Rechte des Beschwerdeführers aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt haben und politisch motiviert gewesen seien. Navalny ist ein 1976 geborener russischer Staatsbürger, der als politischer Aktivist, Oppositionsführer, Anti-Korruptionskämpfer und Blogger internationale Bekanntheit erlangt hat.

In ihrem Urteil stellte die Große Kammer einstimmig fest, dass

(a) eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit / Rechtmäßigkeit der Festnahme oder Inhaftierung) durch sieben Festnahmen und in zwei Fällen von Untersuchungshaft vorlag: Es habe keinen Grund gegeben, warum die Berichte über vermeintliche Ordnungswidrigkeiten von Navalny nicht an Ort und Stelle der jeweiligen Demonstration statt auf einer Polizeiwache hätten erstellt werden können. Die russische Regierung habe keine Begründung dafür geliefert, warum Navalny in einem Fall mehrere Stunden inhaftiert war, bevor er einem Richter vorgeführt wurde, und in einem weiteren Fall über Nacht festgehalten wurde.

(b) eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) in Bezug auf sechs von sieben Gerichtsverfahren nach den Festnahmen vorgelegen habe: Der EGMR begründete dies damit, dass die Gerichte in diesen Fällen ihre Urteile ausschließlich auf die von der Polizei gemeldeten Ereignisse gestützt hätten.

(c) ein Verstoß gegen Art. 11 MRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) vorgelegen habe. Der EGMR betonte dabei, dass das Versammlungsrecht ein Grundrecht sei und die Regierungen zwar über Verfahren für die Genehmigung von Versammlungen verfügen könnten, die Durchsetzung solcher Vorschriften jedoch kein Selbstzweck sein könne. Um einen Eingriff in die Rechte nach Art. 11 zu rechtfertigen, müsse sie insbesondere ein „legitimes Ziel“ anstreben, beispielsweise die Verhütung von Straftaten oder den Schutz der Rechte anderer.

Die Große Kammer urteilte zudem mit vierzehn zu drei Stimmen, dass es einen Verstoß gegen Art. 18 EMRK gegeben habe, wonach die nach der EMRK zulässigen Einschränkungen der genannten Rechte und Freiheiten nur zu den vorgesehenen Zwecken erfolgen dürfen. Der EGMR stellte insoweit fest, dass die Beschwerde von Navalny, dass die Festnahmen politisch motiviert gewesen seien, einen „grundlegenden Aspekt“ des Falls darstelle. Zwei der Festnahmen hätten darauf gezielt, entgegen Art. 18 i.V.m. Art. 5 und 11 EMRK den politischen Pluralismus zu unterdrücken.

Auf Basis von Art. 41 EMRK entschied der EGMR, dass Russland Navalny € 50.000 für einen Nichtvermögensschaden, € 1.025 für einen Vermögensschaden und € 12.653 für Kosten und Auslagen zahlen muss.

Gemäß Art. 46 EMRK, der die Verbindlichkeit und Vollstreckung von Urteilen des EGMR zum Gegenstand hat, empfahl die Große Kammer außerdem, dass die Regierung Maßnahmen ergreift, um das Recht auf friedliche Versammlung in Russland zu gewährleisten. Sie bekräftigte, dass die russische Gesetzgebung zu Demonstrationen, Protesten und Versammlungen keine angemessenen Schutzmaßnahmen gegen willkürliche Eingriffe habe und dass es zu Verstößen gegen Artikel 11 gekommen war, weil Versammlungen einfach deshalb zerstreut worden waren, weil es ihnen an einer Genehmigung fehlte. Der EGMR forderte Russland auf, einen rechtlichen Mechanismus für die Behörden bereitzustellen, um die grundlegende Bedeutung des Rechts auf friedliche Versammlung gebührend zu berücksichtigen und die notwendige Toleranz gegenüber nicht genehmigten, friedlichen Versammlungen zu zeigen.

Die Urteile der Großen Kammer sind nach Art. 44 EMRK endgültig. Sie werden dem Ministerkomitee des Europarates zur Überwachung ihrer Vollstreckung übermittelt. Ob Russland dem Urteil Folge leisten wird, ist mit Blick auf dessen zunehmend kritische Haltung gegenüber dem Europarat im Allgemeinen und der Kontrollkompetenz des EGMR in Bezug auf Menschenrechtsverstöße im Besonderen fraglich.

Das Urteil des EGMR vom 15.11.2018 (Nr. 29580/12 u.a.) ist (in englischer Sprache) abrufbar unter

http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-187605