In seinen Urteilen in den Rechtssachen SpaceNet (C-793/19 u.a.) und VD (C-339/20 u. a.) hat der Europäische Gerichtshof am 20. September 2022 erneut über Fragen der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung entschieden. Seiner bisherigen Rechtsprechung folgend hat das Gericht dabei geurteilt, dass das Unionsrecht einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten entgegensteht. Jedoch hat der Gerichtshof in seinen Urteilen konkrete Rahmenbedingungen für die Zulässigkeit einer Vorratsdatenspeicherung gesetzt. So kann eine Vorratsdatenspeicherung bei ernsten Bedrohungen für die nationale Sicherheit zulässig sein.
Die deutsche Vorlage – SpaceNet und Telekom
Den Rechtsstreits zugrunde lagen Vorlageentscheidungen aus Deutschland und Frankreich. Die deutsche Vorlage stammt vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG 6 C 12.18). Im dortigen Verfahren ging es darum, dass sich der Internetprovider SpaceNet – wie auch die deutsche Telekom – weigerten, entsprechend ihren gesetzlichen Pflichten ab dem 1. Juli 2017 Verkehrs- und Standortdaten betreffend die Telekommunikation ihrer Kunden ohne konkreten Anlass (‚auf Vorrat‘) zu speichern. Ein erstinstanzliches Urteil des VG Köln aus dem Jahr 2018 bestätigte die Rechtmäßigkeit dieser Weigerung. Im anschließenden Revisionsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht, legte dieses dem EuGH die Rechtsfrage vor, ob die deutschen Regelungen zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung, die eine Speicherung von Verkehrsdaten für zehn und Standortdaten für vier Wochen vorsehen, mit dem europäischen Recht vereinbar sind.
Die französische Vorlage – VD und SR
Hintergrund der französischen Vorlage waren Strafverfahren, die wegen Insiderhandels, Hehlerei im Zusammenhang mit Insiderhandel, Beihilfe, Bestechung und Geldwäsche gegen zwei Privatpersonen geführt wurden (VD und SR). Ausgangspunkt der Ermittlungen waren im Rahmen der Bereitstellung von Diensten der elektronischen Kommunikation generierte personenbezogene Daten. Die Vorlagefragen des Cour de cassation betreffen innerstaatliche Rechtsvorschriften, nach denen die Anbieter von Diensten der elektronischen Kommunikation die Verkehrsdaten ab dem Zeitpunkt der Speicherung zur Bekämpfung von Straftaten des Marktmissbrauchs, u. a. von Insidergeschäften, präventiv ein Jahr lang allgemein und unterschiedslos auf Vorrat speichern. In diesem Zusammenhang ging es insbesondere auch um die Verwertbarkeit von Erkenntnissen, die aus einer (unzulässigen) Vorratsdatenspeicherung gewonnen wurden.
Die Entscheidungen des EuGH
Der EuGH sah in seinen Urteilen in beiden Fällen die konkrete Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung für nicht mit dem Unionsrecht vereinbar an. Dabei bleibt der Gerichtshof seiner bisherigen Rechtsprechungslinie treu.
Bereits im Dezember 2016 entschied der Gerichtshof in der Sache Tele2 Sverige AB u. a. (C-203/15 u. a.), dass das Unionsrecht eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten untersagt. Dabei betonte er jedoch, dass es den Mitgliedstaaten freistehe, vorbeugend eine gezielte Vorratsspeicherung dieser Daten zum alleinigen Zweck der Bekämpfung schwerer Straftaten vorzusehen. Jedoch müsse die Speicherung hinsichtlich der Kategorien von zu speichernden Daten, der erfassten Kommunikationsmittel, der betroffenen Personen und der vorgesehenen Dauer der Speicherung auf das absolut Notwendige beschränkt sein.
Diesem Maßstab genügten die Regelungen in Deutschland und Frankreich jedoch nicht.
Im deutschen Fall urteilte der Gerichtshof, dass aus der Datenschutzrichtlinie, die mittlerweile von der Datenschutz-Grundverordnung abgelöst wurde, und der Grundrechtecharta der Europäischen Union grundsätzlich eine Unzulässigkeit einer Vorratsdatenspeicherung folge. Diese Unzulässigkeit sei jedoch nicht absolut. So gäbe es Fälle, in denen eine Vorratsdatenspeicherung unter engen Voraussetzungen auch zulässig sein könne. Maßgeblich sei am Ende insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Insoweit führten die Richter aus, dass eine Zulässigkeit im Rahmen schwerster Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit den Anwendungsbereich einer Vorratsdatenspeicherung eröffnen könnten.
Dabei nennt der Gerichtshof einige Punkte zur konkreten Ausgestaltung einer solchen Vorratsdatenspeicherung:
- Verkehrs- und Standortdaten können allgemein und unterschiedslos auf Vorrat gespeichert werden, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht, sofern diese Anordnung Gegenstand einer wirksamen, zur Prüfung des Vorliegens einer solchen Situation sowie der Beachtung der vorzusehenden Bedingungen und Garantien dienenden Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle sein kann, deren Entscheidung bindend ist, und sofern die Anordnung nur für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber im Fall des Fortbestands der Bedrohung verlängerbaren Zeitraum ergeht
- IP-Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, können allgemein und unterschiedslos auf Vorrat gespeichert werden, wenn dies zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit erforderlich ist und für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum beschränkt ist, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen
Derartige Überwachungsmaßnahmen müssten laut EuGH ihrerseits einer strengen Kontrolle unterliegen. Die Mitgliedsstaaten müssten insoweit durch klare und präzise Regeln sicherstellen, dass bei der Speicherung der fraglichen Daten, die für sie geltenden materiellen und prozeduralen Voraussetzungen eingehalten werden und dass die Betroffenen über wirksame Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken verfügen.
Auch mit Blick auf den französischen Sachverhalt kam der EuGH vor diesem Hintergrund zu dem Ergebnis der Unzulässigkeit einer Vorratsdatenspeicherung in der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung in Frankreich. Insbesondere könne eine solche mit Blick auf Finanz- und Steuerkriminalität nicht aus der Marktmissbrauchsrichtlinie hergeleitet werden. Insgesamt sei die anlasslose Speicherung unverhältnismäßig.
Der Gerichtshof stellte klar, dass die Verwertbarkeit von Beweismitteln, die aufgrund einer solchen Vorratsspeicherung von Daten erlangt wurden, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten dem nationalen Recht unterliege – vorbehaltlich der Beachtung u. a. der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität. Letzterer verpflichte ein nationales Strafgericht jedoch dazu, Informationen und Beweise, die durch eine mit dem Unionsrecht unvereinbare allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung erlangt wurden, auszuschließen, sofern die betreffenden Personen nicht in der Lage seien, sachgerecht zu den Informationen und Beweisen Stellung zu nehmen, die einem Bereich entstammen, in dem das Gericht nicht über eigene Sachkenntnis verfügt, und geeignet sind, die Würdigung der Tatsachen maßgeblich zu beeinflussen.
Ausblick
In einer ersten Reaktion auf das Urteil kündigte Bundesjustizminister Buschmann auf der Internetseite des Justizministeriums (https://www.bmj.de/SharedDocs/Artikel/DE/2022/0920_Vorratsdatenspeicherung_FAQ.html) an, die Vorratsdatenspeicherung nun aus dem Gesetz zu streichen und in Zukunft auf das sog. „Quick-Freeze“-Verfahren zu setzen, welches vom EuGH gebilligt wurde. In diesem Verfahren werden zwar auch Daten auf Vorrat erhoben, jedoch nur für einen erheblich kürzeren Zeitraum. Entsteht innerhalb dieses Zeitraums ein Verdacht für eine Straftat, so werden nur die diese betreffenden Daten „eingefroren“, während die restlichen Daten gelöscht werden. Die betroffenen Daten können sodann nach einer richterlichen Entscheidung entweder verwendet oder endgültig gelöscht werden.