Mit am 23. Mai 2019, dem Tag des 70. Jubiläums des Grundgesetzes, veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats das soziale Netzwerk Facebook im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Seite der Partei „Der III. Weg“ bis zur Feststellung des amtlichen Endergebnisses der Europawahl vorläufig zu entsperren und ihr für diesen Zeitraum die Nutzung der Funktionen von www.facebook.com wieder zu ermöglichen.
Dem Beschluss liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Sachverhalt: Im Januar diesen Jahres veröffentlichte die Partei „Der III. Weg“ auf ihrer Internetseite einen Beitrag unter dem Titel „Winterhilfestand in Zwickau-Neuplanitz“, den sie auch in ihrem Facebook-Profil verlinkte. In dem Beitrag heißt es unter anderem: „Im Zwickauer Stadtteil Neuplanitz gibt es zahlreiche Menschen, die man landläufig wohl als sozial und finanziell abgehängt bezeichnen würde. Während nach und nach immer mehr art- und kulturfremde Asylanten in Wohnungen in den dortigen Plattenbauten einquartiert wurden, die mitunter ihrer Dankbarkeit mit Gewalt und Kriminalität Ausdruck verleihen, haben nicht wenige Deutsche im Viertel kaum Perspektiven (…)“. Daraufhin teilte Facebook der Partei mit, dass der Beitrag als „Hassrede“ gegen die Gemeinschaftsstandards verstoße. Die Sichtbarkeit des Beitrags sei daher eingeschränkt und das Veröffentlichen von Beiträgen für 30 Tage gesperrt worden. Auf Einspruch der Partei, der unter Verweis auf deren Meinungsfreiheit begründet wurde, erfolgte dann die Löschung des Nutzerkontos, dessen Inhalt seitdem nicht mehr verfügbar ist. Vor den ordentlichen Gerichten gestellte Anträge auf Eilrechtsschutz gegen die Sperrung des Beitrags und des Nutzerkontos der Partei blieben in beiden Instanzen erfolglos. Daraufhin reichte die Partei beim BVerfG einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ein. Sie rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 5 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 3, Art. 2 Abs. 1, Art. 38 und Art. 19 Abs. 4 GG.
Zur Begründung ihres Beschlusses hat die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG ausgeführt, dass eine in der Hauptsache gegebenenfalls noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet wäre. Es erscheine vielmehr nicht ausgeschlossen, dass die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, soweit dieses den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der Ermöglichung einer weiteren Nutzung des Internetangebots www.facebook.com durch die Antragstellerin verneint habe.
Die angegriffenen Entscheidungen beträfen die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz in einem Rechtsstreit zwischen sich als Private gegenüberstehenden Parteien über die Reichweite der zivilrechtlichen Befugnisse des Betreibers eines sozialen Netzwerks, das innerhalb der Bundesrepublik Deutschland über erhebliche Marktmacht verfügt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können die Grundrechte in solchen Streitigkeiten im Wege der mittelbaren Drittwirkung Wirksamkeit entfalten. Dabei können sich aus Art. 3 Abs. 1 GG jedenfalls in spezifischen Konstellationen auch gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten ergeben. „Ob und gegebenenfalls welche rechtlichen Forderungen sich insoweit auch für Betreiber sozialer Netzwerke im Internet – etwa in Abhängigkeit vom Grad deren marktbeherrschender Stellung, der Ausrichtung der Plattform, des Grads der Angewiesenheit auf eben jene Plattform und den betroffenen Interessen der Plattformbetreiber und sonstiger Dritter – ergeben“, sei jedoch weder in der Rechtsprechung der Zivilgerichte noch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abschließend geklärt. Die verfassungsrechtlichen Rechtsbeziehungen seien insoweit noch ungeklärt.
Auch ergebe sich aus den angegriffenen Entscheidungen nicht mit hinreichender Gewissheit, dass dem beanstandeten Beitrag bei Beachtung grundrechtlicher Maßstäbe ein strafbarer Inhalt entnommen werden müsse und sich die Sperrung des Beitrages sowie des Nutzerkontos bereits hieraus rechtfertigen. Auch von daher wäre eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde nicht offensichtlich unbegründet.
Zur Entscheidung stünden damit schwierige Rechtsfragen, die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht entschieden werden könnten. Ihre Klärung sei – gegebenenfalls nach Durchführung eines Hauptsacheverfahrens vor den Fachgerichten – der Klärung in der Hauptsache vorbehalten. Es bedürfe daher gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG einer Folgenabwägung.
Die Folgen, die einträten, wenn der antragstellenden Partei eine Nutzung ihres Internetangebots auf Facebook versagt bliebe, sich später aber herausstellte, dass Facebook als Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens zur Wiedereröffnung des Zugangs hätte verpflichtet werden müssen, wögen jedenfalls für den Zeitraum bis zur Durchführung der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland erheblich schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn Facebook einstweilig zur Wiederherstellung des Zugangs verpflichtet würde, sich später aber herausstellte, dass die Sperrung beziehungsweise Zugangsverweigerung zu Recht erfolgt war.
Im Folgenden befasst sich das BVerfG erstmalig ausführlich mit der Rolle von Facebook im demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess im digitalen Zeitalter: „Die Antragstellerin bedient sich des Angebots der Antragsgegnerin, das nach deren Werbeangaben von über 30 Millionen Menschen in Deutschland monatlich genutzt wird, um ihre politischen Auffassungen darzulegen und zu Ereignissen der Tagespolitik Stellung zu nehmen. Die Nutzung dieses von der Antragsgegnerin zum Zweck des gegenseitigen Austausches und der Meinungsäußerung eröffneten Forums ist für die Antragstellerin von besonderer Bedeutung, da es sich um das von der Nutzerzahl her mit Abstand bedeutsamste soziale Netzwerk handelt. Gerade für die Verbreitung von politischen Programmen und Ideen ist der Zugang zu diesem nicht ohne weiteres austauschbaren Medium von überragender Bedeutung. Durch den Ausschluss wird der Antragstellerin eine wesentliche Möglichkeit versagt, ihre politischen Botschaften zu verbreiten und mit Nutzern des von der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens betriebenen sozialen Netzwerks aktiv in Diskurs zu treten. Diese Möglichkeiten blieben ihr bei Nichterlass einer einstweiligen Anordnung verwehrt und würden dazu führen, dass die Wahrnehmbarkeit der Antragstellerin und ihrer Foren für diese Zeit in erheblichem Umfang beeinträchtigt wäre.“
Demgegenüber werde Facebook durch eine stattgebende Entscheidung lediglich verpflichtet, die von ihr aus freien Stücken eingegangene vertragliche Verpflichtung zur Verbreitung und Vorhaltung der von der Partei eingestellten Angebote vorläufig weiter zu erfüllen. Facebook entstünden durch die weitere Vorhaltung des Angebots an sich insbesondere keine wirtschaftlichen Kosten, die über das mit der ordnungsgemäßen Vertragserfüllung gegenüber anderen Nutzern verbundene Maß hinausgehen. Die Privatautonomie von Facebook werde daher nur insoweit tangiert, als ihm eine Loslösung von der ursprünglich freiwillig eingegangenen Vertragsbeziehung vorläufig verwehrt werde.
Insbesondere werde Facebook durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht dazu verpflichtet, rechtswidrige oder gegen seine Nutzungsbestimmungen verstoßende Beiträge ungeprüft vorhalten und verbreiten zu müssen. Denn sein Recht und seine Pflicht, einzelne Inhalte auf ihre Vereinbarkeit mit ihren Nutzungsbedingungen, den Rechten Dritter oder den Strafgesetzen zu prüfen und diese gegebenenfalls zu löschen, bleibe durch die vorläufige Bereitstellung des Accounts aufgrund dieser Anordnung unberührt. Gegen etwaige Löschungsentscheidungen seitens Facebook sei dann der Rechtsweg zu den Zivilgerichten eröffnet, denen im Rahmen der Prüfungen vertraglicher oder quasivertraglicher Ansprüche der Antragstellerin dann auch die Prüfung obliege, ob die Facebook-Entscheidung auch unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls mit der Werteordnung des Grundgesetzes vereinbar sei. Insoweit nimmt das BVerfG auch auf die Gefahren einer Inanspruchnahme von Facebook nach § 4 NetzDG Rücksicht.

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/05/qk20190522_1bvq004219.html