Kammer vom 13. September 2018 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass das Regime der Massenüberwachung gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention  (EMRK) (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens / Kommunikation) verstoße, da sowohl die Auswahl der Internet-Service-Provider für die Überwachung als auch die Filterung, Suche und Auswahl der abgefangenen Mitteilungen für die Prüfung unzureichend überwacht wurden und die Garantien für die Auswahl der « verwandten Kommunikationsdaten » für die Prüfung unzureichend waren. Bei dieser Schlussfolgerung stellte der Gerichtshof fest, dass die Durchführung einer Regelung zur Massenüberwachung an sich nicht gegen das Übereinkommen verstößt, weist jedoch darauf hin, dass ein solches Regime die in seiner Rechtsprechung festgelegten Kriterien einhalten müsse.

Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass das Regime zum Erhalt von Kommunikationsdaten von Kommunikationsdienstanbietern Artikel 8 EMRK verletze, weil es nicht im Einklang mit dem Gesetz stehe, und dass sowohl das Regime der Massenüberwachung als auch die Regelung für die Beschaffung von Kommunikationsdaten von Kommunikationsdienstleistern gegen Artikel 10 EMRK verstießen, da hinsichtlich vertraulichen journalistischen Materials keine ausreichenden Garantien bestünden.

Ferner stellte der EGMR fest, dass das Regime für den Austausch von Informationen mit ausländischen Regierungen weder gegen Artikel 8 noch gegen Artikel 10 verstoße.

Die jüngste Entscheidung des EGMR fügt sich in eine Fülle von Entscheidungen zu geheimer Überwachung ein, mit der sich der Gerichtshof bereits seit 1978 (Klass gegen Deutschland) befasst hat. Die betreffenden Fälle umfassten das Abhören von Kommunikationen, die Beschaffung von Kommunikationsdaten, die Verfolgung von Personen über GPS und die Aufzeichnung von Gesprächen.

In Bezug auf Massenüberwachung von Kommunikation hat der EGMR zuletzt im Juni 2018 (Centrum För Rättvisa gegen Schweden) festgestellt, dass die schwedische Gesetzgebung und Praxis im Bereich der Signalaufklärung nicht gegen die EMRK verstoße, namentlich da das schwedische System angemessene und ausreichende Garantien gegen Willkür und die Gefahr von Missbrauch biete. Vor etwa zehn Jahren betrachtete der EGMR ähnliche Bestimmungen im deutschen G10-Gesetz (Weber und Saravia gegen Deutschland).  Der nunmehr entschiedene Fall Big Brother Watchist allerdings die erste Entscheidung, in der das Gericht das Ausmaß der Beeinträchtigung des Privatlebens einer Person, die sich aus dem Abfangen und Überprüfen von Kommunikationsdaten (im Gegensatz zum Inhalt) ergeben könnte, besonders berücksichtigt hat. Ebenfalls erstmalig befasst sich der EGMR im nunmehr entschiedenen Fall mit der gemeinsamen transnationalen Nutzung von Informationen: Er untersucht erstmalig die Art und Weise, in der die Behörden Informationen von ausländischen Regierungen anfordern und empfangen.

Der EGMR erkennt ausdrücklich die Schwere der Bedrohungen an, denen viele Vertragsstaaten derzeit ausgesetzt sind, einschließlich der Geißel des weltweiten Terrorismus und anderer schwerer Verbrechen wie Drogenhandel, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Kindern und Cyberkriminalität. Er anerkennt auch, dass der technologische Fortschritt es Terroristen und Kriminellen erleichtert hat, sich der Entdeckung im Internet zu entziehen. Er vertritt daher die Auffassung, dass die Staaten bei der Wahl des optimalen Schutzes der nationalen Sicherheit über einen weiten Ermessensspielraum verfügen sollten. Folglich kann ein Staat ein Massenabhörsystem betreiben, wenn er dies im Interesse der nationalen Sicherheit für notwendig hält.

Der EGMR konnte jedoch nicht ignorieren, dass Überwachungsregelungen das Potenzial haben, missbraucht zu werden, was schwerwiegende Folgen für die Privatsphäre des Einzelnen hat. Um dieses Risiko zu minimieren, hat der EGMR zuvor sechs Mindestgarantien festgelegt, die für alle Abhörsysteme gelten müssen.

Die Garantien bestehen darin, dass das nationale Recht klar angeben muss: die Art der Straftaten, die zu einer Abhöranordnung führen können; eine Definition der Kategorien von Personen, deren Kommunikation abgehört werden darf; eine Begrenzung der Abhördauer; das Verfahren zur Prüfung, Verwendung und Speicherung der erhaltenen Daten; die Vorsichtsmaßnahmen, die bei der Übermittlung der Daten an andere Parteien zu treffen sind; und die Umstände, unter denen abgefangene Daten gelöscht oder vernichtet werden können oder müssen. Im Falle Roman Sacharow gegen Russlandhat das Gericht zudem bei der Feststellung, ob die fraglichen Rechtsvorschriften gegen Artikel 8 EMRK verstoßen, auch die Modalitäten für die Überwachung der Durchführung geheimer Überwachungsmaßnahmen, etwaige Notifizierungsmechanismen und die im nationalen Recht vorgesehenen Rechtsmittel berücksichtigt.

Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, da die Parteien bei einer Kammer-Entscheidung die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragen können. Über einen solchen Verweisungsantrag, der nur ausnahmsweise angenommen wird, entscheidet eine Jury der Großen Kammer.