Hitzige Regulierungsdebatten auf beiden Seiten des Atlantiks, die Abschaffung von Cookies von Drittanbietern, die explosionsartige Zunahme von Online-Streaming und E-Commerce – die Werbeindustrie ist derzeit dabei, die Grundlagen ihrer Funktionsweise zu erneuern, mit neuen Geschäftsmodellen, regulatorischen Herausforderungen und weitreichenden strukturellen Veränderungen. Es bieten sich Chancen für die einen während manch anderer sich Sorgen macht. Dabei hat jede Art von Regulierung Auswirkungen auf den Markt, oft allerdings nicht so, wie politisch gewollt; die Marktbeteiligten reagieren vielfach anders als der politische Regulierer es unterstellt.

Im heutigen EMR-Webinar « Alles auf Null bei der digitalen Werbung? » skizzierte Referent Dr. Daniel Knapp, Werbe- und Medienanalyst und Mitglied des Vorstandes des EMR, die technischen, wirtschaftlichen und regulatorischen Trends, die die digitale Werbebranche in den nächsten fünf Jahren bestimmen werden, aus einer wirtschaftsanalytischen Perspektive und gab neue Impulse, wie politische Entscheidungsträger, Praktiker, Akademiker oder Technologen wichtige Debatten gestalten können.

Als « Jahr Null für die digitale Werbebranche » beschrieb Knapp einleitend den Zeitabschnitt, in dem wir uns aktuell befinden und der unter anderem mit Googles Ankündigung 2020 begann,  den Weg weg vom Modell der Drittanbieter-Cookies und hin zu neuen Ansätzen im Bereich (targetierter) Werbung gehen zu wollen. Mit interessanten Daten und Zahlen aus der Branche, belegte Knapp, dass sich – trotz der Auswirkungen der Pandemie in den vergangenen beiden Jahren – der digitale Werbemarkt im Wachstum befinde: Einerseits sei zu beobachten, dass Werbebudgets längst nicht mehr zu dem Bereich des Haushalts gehören, der als erstes notwendigen Kürzungen zum Opfer falle, sondern vielmehr essentieller Bestandteil von Unternehmenstrategien sei. Andererseits habe der erhebliche (auch teils pandemiebedingte) Wachstum in den Bereichen e-Commerce und Streaming auch zu einem Wachstum des digitalen Werbemarktes geführt – digitale Kunden müssen auch digital akquiriert werden. Dabei seien auch einige Paradigmenwechsel zu erkennen: So sei besonders großer Wachstum in den Bereichen Retail und Video zu verzeichnen,  auf « neue » und « datenreiche » Branchensegmente wie zum Beispiel den Gaming-Bereich würde vermehrt für Werbung zugegriffen und der frühere Werbefunnel entwickle sich durch Veränderungen in der Targetierung mehr und mehr zum Zylinder, um Werbebudgets optimal(er) zu nutzen. 

Der größte Paradigmenwechsel sei aber durch die « Privacy First World » bedingt, in der gesetzliche Forderungen nach (mehr) Privatsphäre und Datenschutz der Werbeadressaten mit den unternehmerischen Interessen, Werbestrategien weiterhin lukrativ zu halten, in Einklang zu bringen seien. In dieser neuen Welt – ggf. ohne Cookies – müsse es auch neue Ansätze, wie Adressierbarkeit auszugestalten ist, und mehrere Säulen von Werbestrategien geben – von der gezielten Ansprache identifizierbarer Individuen bis hin zu kontextbasierter Werbung auf Basis generischer Merkmale. Dabei basiere die datengetriebene Werbung der Zukunft nicht mehr auf Gewissheiten, sondern auf Wahrscheinlichkeiten, was auf Seiten der Werbetreibenden eine Experimentierkultur voraussetze. Auf Seiten der Regulierer sei demgegenüber von Bedeutung, inwiefern sich neue Werbestrategien in die gesetzlichen Vorgaben einfügten, insbesondere nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führen und das geltende Datenschutzrecht wahren. Bereits jetzt seien hier laut Knapp Kollaborationsmodelle zu beobachten, wie zum Beispiel das der britischen Wettbewerbsbehörde, die die neuen Ansätze von Google mit kritischem Blick auf mögliche wettbewerbsrechtliche Implikationen begleite. 

Das sei vor dem Hintergrund der Wertschöpfungskette der digitalen Werbebranche, die sich derzeit vollkommen verändere, noch wichtiger, aber auch schwieriger. Diese Wertschöpfungskette sei aktuell noch sehr komplex ausgestaltet, streue für die Werbung essentielle Daten insbesondere über eine Vielzahl von Anbietern, und vor allem intransparent. Auch dies habe zu einer Entwicklung des Werbemarktes geführt, die die digitale Landschaft in gewisser Weise fragmentiert. Die großen Player wie insbesondere Meta, Google und Apple bauen ihre « walled gardens » auf, die sich als in sich geschlossene und nebeneinanderstehende Werbesysteme darstellen, auf die viele, vor allem kleinere Player angewiesen sind, die keine eigenen geeigneten Infrastrukturen aufbauen können. Zwar gingen viele Werbetreibende bereits den direkten Weg zu den Anbietern von Werbeflächen ohne den Umweg über Intermediäre. Dieser Weg sei aber weiterhin ein schwieriger. 

Aus Perspektive des Mediensektors werfen die Erkenntnisse aus dem detaillierten Vortrag von Knapp insbesondere Bedenken vor dem Hintergrund der Vielfaltssicherung auf. Werbestrategien, die sich nicht mehr (allein) auf die notwendige Finanzierung von journalistischen Inhalten konzentrieren (können) und die Verstärkung des Einflusses von Intermediären, werden in Zukunft vor allem aus Perspektive der Medienregulierung kritisch zu beobachten sein.